Der Stil des lateinischen Weihnachtsoratorium von Camille Saint-Saëns (1835-1921) ist das, was als typisch französisch gelten darf: Klarheit und Übersichtlichkeit in den Proportionen, verhalten ausdrucksstarke Behandlung der Sprache, Eleganz der Melodien sowie noble und reizvolle Harmonik. Die Texte des zehnteiligen Oratorio de Noël stammen aus der lateinischen Weihnachtsliturgie: auf die Verkündigung der Geburt Christi der Engel auf dem Felde aus dem Lukasevangelium folgen sehr sinnvoll angeordnete Verse aus den Psalmen, aus Jesaja und den Evangelien nach Matthäus und Johannes, in denen das Weihnachtsereignis aus prophetischer und theologischer Sicht gedeutet wird.
Obwohl der junge Saint-Saëns gleich zu Beginn des Oratoriums dem großen Thomaskantor seine Reverenz in Gestalt eines Präludiums »im Stil Seb. Bachs« erweist, war Bachs Weihnachtsoratorium sicher nicht das Vorbild für seine Komposition. Von der trompetenüberglänzten Festlichkeit des Bachschen Werkes ist die Weihnachtsmusik des dreiundzwanzigjährigen Franzosen weit entfernt. Vorbild war eher der Lyrismus der französischen Kirchenmusik des 19. Jahrhunderts. Schon die Besetzung lässt dies erkennen. Zu den fünf Vokalsolist*innen (Sopran, Mezzosopran, Alt, Tenor und Bariton), treten ein vierstimmiger Chor, ein Streichorchester, eine Harfe und eine Orgel. Das Fehlen von Bläserstimmen bewirkt ein gedecktes, romantisch-warmes Klangbild, das in einigen Sätzen durch das glitzernde Passagenspiel der Harfe apart aufgelichtet wird. Der lyrische Grundton des Werkes wird nur manchmal unterbrochen durch Rezitative, choralartige chorische Passagen bis hin zu hymnischer Steigerung, in einem Falle - am Anfang von Chor Nr.6 „Quare fremuerunt gentes“ - durch aufbegehrende Dramatik. Doch insgesamt legte Saint-Saëns mehr Wert auf religiöse Aspekte und deren Betrachtung als auf das „menschliche Drama“ in den Bibeltexten.
Die meist ruhigen Tempi und eine zurückhaltende Dynamik unterstreichen die besinnliche Grundstimmung des Werkes. Einzelne Sätze sind im Tonfall besonders lyrisch, wie das von warmen Dur-Klängen geprägte, liebliche Gloria patri des Chores am Ende des 6. Satzes oder der 7. Satz mit seinen klangteppichartigen Harfen-Arpeggien. Die Sätze 1 und 9 bedienen sich ein und desselben Hirten-Themas und spannen damit den Bogen um das ganze Werk. Durch die Verwendung von Quinten und Quarten sowie Zungenregistern in der Orgel entsteht hier eine perfekte, pastorale Idylle. Mit dem berühmten Tollite hostias endet das Werk in hymnischem Lobpreis.
Das stimmungsvolle Weihnachtsoratorium mit seinen wundervollen warmen Kantilenen ist hierzulande lange unbekannt geblieben. Und auch zu Lebzeiten Saint-Saëns ? fand es überraschend wenig Beachtung; so nahm die Presse seinerzeit von der Uraufführung keinerlei Notiz.